Heute geht es darum, dass man über den Gartenzaun hinausblickt und sich
bemüht, die unterschiedlichen Lebenswelten, Weltanschauungen und
Wertsysteme der Völker unserer internationalen Gemeinschaft zu
verstehen, und diese Vielfalt auch als Chance sieht, den eigenen
Standpunkt besser zu entwickeln. Auch wenn es angesichts der jüngsten
Ereignisse vielleicht idealistisch erscheinen mag, so könnte man sagen,
dass Kulturhermeneutik gerade in der Ära der Globalisierung eine
eminente politische Bedeutung erlangt, die über die klassischen Anliegen
des Bildungsbürgertums hinausgeht.
Die Allianz der Zivilisationen ist eine Initiative von inzwischen 139
Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, die – wenn man den Namen
betrachtet – offenbar mehr als einen bloßen Dialog, nämlich eine Art
Zusammenschluss der Zivilisationen suchen. Wenn es sich um Staaten und
nicht um Individuen oder Gruppierungen der Zivilgesellschaft handelt,
muss man allerdings immer auch hinterfragen, zu welchem konkreten Ziel,
mit welchen Hintergedanken, eine solche Allianz geschmiedet wurde – und
allenfalls auch, gegen wen oder wogegen. Dies ist durchaus berechtigt,
weil sich unter den 139 Staaten, die sich offiziell als „Freunde der
Allianz der Zivilisationen“ deklariert haben, viele befinden, die aktiv
in Kriege verwickelt sind – wobei es sich oftmals auch um Kriege mit
zivilisatorischen Untertönen handelt.
Was die Politik betrifft, so ist es inzwischen eine allgemein anerkannte
Tatsache, dass die Formel «Dialog der Zivilisationen» seit den bis jetzt
unaufgeklärten – oder nicht voll aufgeklärten – Ereignissen des Jahres
2001 zum Inbegriff von so etwas wie globaler «political correctness»
geworden ist. Die Formel «Dialog der Zivilisationen» wurde bereits im
Jahre 2000 – also vor den Ereignissen von 2001 – durch den damaligen
Präsidenten des Iran, Mohammad Chatami, in der Weltöffentlichkeit
thematisiert. Die UNO hat über sein Betreiben bereits damals
beschlossen, dass 2001 das Jahr des Dialoges der Zivilisationen sein
solle.
Angesichts der politischen Vereinnahmung dieser Formel durch praktisch
alle Seiten und Parteien im globalen Spiel der Kräfte erscheint mir eine
philosophische Hinterfragung angebracht.
Ganz kurz möchte ich noch auf die Vorgeschichte des Begriffes eingehen –
d.h. auf die Zeit, bevor er zu einem Schlagwort der Weltpolitik wurde.
Ich habe die Dialog-Problematik und die damit zusammenhängende
philosophische Begrifflichkeit mehr oder weniger in der Phase des Kalten
Krieges entwickelt. Anfangs der 70er Jahre – genau im Jahre 1972, als
wir dabei waren, die International Progress Organization zu gründen –
habe ich an der Universität Innsbruck einen Vortrag zur Fragestellung:
«Wie kann der Friede in einer Ära der ideologischen Konfrontation
zwischen Kommunismus und Kapitalismus gesichert werden?» gehalten. Dies
war die Zeit des Ost-West-Konfliktes. Meine Schlussfolgerung damals war,
dass Friede dauerhaft nur gesichert werden kann auf der Basis eines
echten Dialoges zwischen den verschiedenen kulturellen und
zivilisatorischen Identitäten. Ich habe in diesem Jahr (1972) an die
Direktion für Philosophie der Unesco einen Brief geschrieben und
vorgeschlagen, die Weltkulturorganisation möge sich des Themas eines
«Dialoges zwischen verschiedenen Zivilisationen» als Grundlage des
Weltfriedens annehmen. Damals war die Zeit für die Idee jedoch noch
nicht reif; das politische Umfeld war schlicht und einfach nicht gegeben
– und insofern hat diese Initiative auf politischer Ebene nichts weiter
ausgelöst. Dies ist, wie wir inzwischen wissen, erst ein
Vierteljahrhundert später geschehen.
Ich kann hier nicht im einzelnen über die philosophischen Prinzipien des
Dialoges zwischen den Zivilisationen sprechen. Ich möchte aber doch noch
einen historischen Hinweis geben, bevor ich die gegenwärtige
Konstellation behandle: Damals, als wir das Thema lancierten, also
Anfang der 70er Jahre, hatten wir auch eine Konferenz über das
kulturelle Selbstverständnis der Völker veranstaltet, und zwar im Jahre
1974 gemeinsam mit der Unesco. Die Weltkulturorganisation der UNO ist
auf unsere Initiative eingegangen – und es ist bemerkenswert, dass
damals zumindest eine Persönlichkeit der Weltpolitik die
Bedeutung des Paradigmas des Dialoges der Zivilisationen und Kulturen
verstanden und auch politisch thematisiert hat: Der Generalsekretär der
Vereinten Nationen, Kurt Waldheim, richtete eine Botschaft an die
Teilnehmer unserer Innsbrucker Konferenz. Er schrieb wörtlich: «There is
no future for mankind unless tolerance and understanding between
cultures and nations become the rule rather than the exception.» (Die
Menschheit hat keine Zukunft, solange Toleranz und Verständigung
zwischen den Kulturen und Nationen nicht zur Regel werden, statt nur
ausnahmsweise zu gelten.)
Worauf es mir in diesen Ausführungen ankommt, ist, den Dialogansatz als
solchen im Hinblick auf die gegenwärtige weltpolitische Praxis kritisch
zu hinterfragen. Ich sehe mich hier in der Tradition von Frau Dr.
Annemarie Buchholz-Kaiser, die unmissverständlich auf die multipolare
Struktur der heutigen Welt hingewiesen und die daraus resultierende
Notwendigkeit der Verständigung über weltanschauliche Grenzen hinweg
betont hat. In einem Artikel von ihr (Zeit-Fragen, Nr. 28 vom 10. 9.
2013) heisst es: «Reichen wir einander die Hand, aus welchem
weltanschaulichen Lager auch immer wir kommen». Das ist jetzt die
unmittelbare Problematik, vor der wir stehen, denn eigentlich ist, was
wir hic et nunc erleben, fast ein Scherbenhaufen der internationalen
Politik des Dialoges.
Zwei
Umstände charakterisieren die gegenwärtige Situation:
Erstens:
Kriegerische Auseinandersetzungen werden – trotz aller
Dialog-Beteuerungen der Mächtigen – weiterhin mit unverminderter Härte
geführt. Ein Beispiel dafür ist die stark ideologisch gefärbte
Konfrontation zwischen dem Islam und der westlichen Welt, die sich
erneut extrem zuspitzt. Man braucht nur darauf zu verweisen, was im
Irak, in Syrien, in Libyen, Mali, Nigeria und anderen Ländern und
Regionen geschieht . Es gibt aber nicht nur die ideologische
Konfrontation «Islam – westliche Welt», sondern auch einen sehr
bedrohlichen innerislamischen theologischen Konflikt zwischen
Schiitentum und Sunnitentum, aber auch zwischen verschiedenen
Gruppierungen innerhalb der sunnitischen Gemeinschaft, was die Auslegung
der Lehre betrifft. Des weiteren ist festzuhalten, dass neue
ideologische Gräben zwischen Ost und West auch in Europa aufbrechen, wie
am Beispiel des Ukraine-Konfliktes gezeigt werden kann. Es ist, so
scheint mir, ein Faktum, dass Krieg weiterhin als Mittel zur Austragung
von Streitigkeiten angesehen wird und dass man sich diesbezüglich noch
nicht die Prinzipien, die in der Charta der Vereinten Nationen verankert
sind, zu Herzen genommen hat, wonach eigentlich jede Anwendung oder
Androhung von Gewalt zwischen Staaten geächtet wäre.
Zweitens
ist festzuhalten: Anders als vielleicht in früheren Epochen ist durch
die technisch-wirtschaftliche Entwicklung heute eine präzise Trennung
von internationaler (zwischenstaatlicher) und innerstaatlicher Dimension
nicht mehr möglich. Der sogenannte «clash of civilisations», wie
Huntington ihn nannte, der Konflikt zwischen Zivilisationen, spielt sich
nicht nur auf beiden Ebenen ab, sondern es gibt auch eine Wechselwirkung
zwischen innerstaatlicher und internationaler Ebene. Man kann hier zum
Beispiel die Konflikte im Zusammenhang mit der Multikulturalität in
Europa erwähnen. Diese können nicht von den Konflikten im Nahen Osten
getrennt werden, in die sich europäische Staaten in den letzten Jahren
direkt oder indirekt eingemischt haben. Ich habe bereits zu Beginn des
sogenannten Arabischen Frühlings – man kann natürlich auch einen
anderen, neutraleren Terminus verwenden: etwa «Arabische Revolte» – im
Jahre 2011 vor einer Einmischung von aussen gewarnt. Ich habe diese
Warnung auch in verschiedenen türkischen Zeitungen geäussert. In den
Staatskanzleien hat man – wie wir wissen – den Rat nicht befolgt – und
jetzt ist man mit den Konsequenzen konfrontiert. Es ist eine Kette von
Ereignissen in Gang gesetzt worden, deren Folgen die Proponenten eines
Dialoges der Zivilisationen nur noch als hilflos, wenn nicht überhaupt
als unglaubwürdig erscheinen lassen. Die Frage ist, ob es sich hier
wirklich um die berühmten, wie die Amerikaner sagen würden, «unintended
consequences» handelt, die unbeabsichtigten Folgen politischer und
militärischer Einmischung, oder ob nicht auch noch andere, nämlich
langfristige machtpolitische Überlegungen mit hineinspielen. Die
Gretchenfrage in der jetzigen Situation ist die: Wie kann man, wenn man
sich etwa im schönen Bali in Indonesien versammelt [gemeint ist die
Konferenz der UNO im August 2014], um über die Allianz der
Zivilisationen und die Förderung des Dialoges zu sprechen, eine solche
Zielsetzung mit Waffengewalt, also mit einer auf «régime change»
gerichteten Politik der bewaffneten Intervention in fremden Ländern,
vorantreiben? Die Akteure der Weltpolitik, die sich offiziell dem Dialog
verschrieben haben, haben tatsächlich eine politische Realität
herbeigeführt, ein Klima geschaffen, das uns – wie immer man dies
persönlich bewerten mag, und ob man will oder nicht – eine neue Ära
kreuzzugsartiger Auseinandersetzungen beschert hat. Man könnte hier u.
a. auf die noch fortdauernden Interventionen in Afghanistan (2001), im
Irak (2003), in Libyen (2011) und in Syrien (ebenfalls seit Beginn 2011)
verweisen. Was alle diese Fälle bewaffneter Einmischung betrifft, macht
die idealistische Rhetorik allerdings misstrauisch. Es ist weiters eine
Tatsache, dass durch wiederholte westliche Interventionen in der
islamischen Welt ein Zustand herbeigeführt wurde, in welchem der
Fortbestand der autochthonen christlichen Gemeinden faktisch im gesamten
Nahen Osten, vor allem aber in Syrien und im Irak, nicht mehr gesichert
ist. Dies ist ein Thema, das von den Medien in der westlichen Welt viel
stärker thematisiert werden müsste. In diesem Zusammenhang konstatiere
ich eine völlige weltpolitische Ratlosigkeit gegenüber dem sogenannten
Islamischen Staat und insbesondere gegenüber dem Phänomen – wie ich es
nennen würde – der Kalifatsausrufungen (wie z. B. für ein Gebiet, das
große Teile von Irak und Syrien umfasst, aber auch in Nigeria).
Ebenfalls ist auf die völlige geostrategische Ratlosigkeit gegenüber den
Zerfallserscheinungen der im Zuge des Ersten Weltkrieges der Region des
Mittleren Ostens aufgezwungenen politischen Ordnung zu verweisen. Es ist
kein Zufall, dass diejenigen, die für den «Islamischen Staat sprechen»,
großspurig erklärt haben, dass mit dem Auftreten dieses Gebildes das
Ende von «Sykes-Picot» eingeleitet worden sei, dieses 1916 zwischen
einem Diplomaten Grossbritanniens und einem Diplomaten Frankreichs
abgeschlossenen Geheimabkommens, das die Grenzziehung in dieser Region
gegen den Willen bzw. ohne Konsultierung der betroffenen Völker
festgelegt hat. Wie dem auch immer sei: Es ist in dieser unserer Ära, in
der man den Dialog der Zivilisationen ausgerufen hat, durchaus geboten,
dass man ganz konkret politisch-historische Ursachenforschung betreibt.
Folgende drei Punkte möchte ich feststhalten:
Erstens:
Trotz aller Beteuerungen hat man sich – wie mir scheint – gegenseitig
den Respekt versagt. Insbesondere die westliche Welt wollte über
Jahrzehnte hinweg, vor allem auch seit dem Ende des Kalten Krieges, der
östlichen – und speziell der islamischen – Welt ihren Stempel
aufdrücken. Es kommt jetzt darauf an, die Situation so rational wie
möglich und sine ira et studio [ohne Hass und Vorliebe, d. h. unbedingt
sachlich] zu analysieren, denn emotionale Verurteilungen bringen uns
hier nicht weiter. Man muss der historischen Wahrheit ins Auge sehen. Im
Fall des Irak etwa ist zu bedenken, dass die Nürger dieses Landes
zunächst (ab 1990) einer mehr als zehn Jahre dauernden grausamen,
umfassenden Sanktionspolitik unterworfen waren, an deren Folgen bis zu
einer Million Menschen gestorben sind, und dass in der Folge – nach dem
Aggressionskrieg 2003 – die Sunniten im Irak systematisch marginalisiert
und gedemütigt – man könnte auch sagen: der Rache ihrer Feinde
ausgeliefert – wurden. Man erlaube mir hier die persönliche Anmerkung
bzw. Frage, wie denn der zum Katholizismus konvertierte ehemalige
britische Ministerpräsident Tony Blair eine solche genozidale Politik
mit seinem Gewissen vereinbaren konnte; denn als Persönlichkeit des
öffentlichen Lebens hat er die Religion in seinen Reden immer besonders
hervorgehoben.
Die Entwicklung in Syrien und im Irak – mit der Herausbildung einer
neuen Struktur (des sogenannten Islamischen Staates), von der ich nicht
weiss, wie sie sich verfestigen und wie lange sie sich halten wird – ist
nicht aus dem Nichts gekommen. Sie hat einen konkreten historischen und
sozialen Hintergrund. In der Geschichte und in den Beziehungen zwischen
den Kollektiven gilt stets das Gesetz von actio und reactio.
Zweiter Punkt:
Die politische Neugestaltung gemäss der Vision des sogenannten Greater
Middle East ist vornehmlich mit Mitteln der Gewalt erfolgt. Es handelte
sich dabei um Sanktionen und um bewaffnete Interventionen, aber es ging
auch – als Teil des Ganzen wesentlich – um ideologische Bevormundung der
Bevölkerung, die man im Sinne unserer westlichen Vorstellungen von
Demokratie und Freiheit missionieren – oder umerziehen – wollte.
Dritter Gesichtspunkt:
Diese Politik führte – wie schon angedeutet – zu einer immer grösser
werdenden Entfremdung der moslemischen Bevölkerung auch in Europa und –
auf beiden Seiten – zu einer Infragestellung– dessen, was man mit dem
Schlagwort der Multikulturalität bezeichnet. Dies ist übrigens der
„Scherbenhaufen“, von dem ich vorher gesprochen habe.
In der Folge bedeutet dies, dass die Propagierung eines Dialoges der
Zivilisationen ein blosses Lippenbekenntnis bleibt, wenn dieses Projekt
nicht in eine insgesamt friedliche Politik der Koexistenz,
einschliesslich des Verzichtes auf Missionierung und ideologische
Bevormundung, eingebettet ist. Ich meine hier „Missionierung“ nicht in
einem theologischen, sondern im politisch-ideologischen Sinn, so wie sie
die führende Weltmacht bisher betrieben hat. Was ich hier sage, gilt
selbstverständlich für beide Seiten, nicht nur für den Westen.
Die zivilisatorisch-kulturellen Bruchlinien zeigen sich inzwischen
überall, nicht nur in den europäischen Gesellschaften, sondern auch in
der arabischen Welt – und dort mit grösserer Schärfe, als man sich das
jemals hat vorstellen können. Dies sieht man z. B. an den Entwicklungen
in Ägypten, wobei ich hier auf die Details nicht eingehen kann, und
natürlich auch in Syrien, im Irak und in Libyen.
Weltpolitisch bedeutet dies, dass eine lange Zeit der Instabilität auf
uns alle zukommt, nicht nur auf die Menschen im Nahen Osten. Man wird
auch zur Kenntnis nehmen müssen, dass der Traum von der «splendid
isolation» – hier bei uns, nördlich des Mittelmeeres – angesichts der
neuen Völkerwanderung aus dem Süden, die wesentlich durch die westliche
Interventionspolitik ausgelöst wurde, inzwischen wohl ausgeträumt ist.
Zum Abschluss: Quid nunc? – Was jetzt?
Für kurzfristige Symptomkuren ist es zu spät. Luftangriffe sind zwar für
den Westen bequem (übrigens auch feige), zumeist jedoch ineffizient, ja
kontraproduktiv. Der Schaden ist bereits angerichtet.
Angesichts des auch vom Westen verursachten Chaos und der Verunsicherung
der Bevölkerung im Nahen Osten genauso wie in Europa ist eine
strategische Neubesinnung im Hinblick auf die Politik bzw. die
politische Relevanz des Dialoges der Zivilisationen notwendig. Dies
muss eine Rückbesinnung auf das Paradigma, also auf den Grundbegriff des
Dialoges im gegenwärtigen System der zwischenstaatlichen Beziehungen
einschliessen.
Ich verweise auf einige wenige Gesichtspunkte, die man sich hier
vergegenwärtigen sollte:
Dialog ist unvereinbar mit dem Ethos – man kann natürlich auch sagen:
Pathos – der Missionierung, auf islamischer genauso wie auf
westlich-säkularer oder christlicher Seite. Wenn Dialog mehr sein soll
als blosses Zwiegespräch, blosse Konversation, dann müsste man sich auf
die rationale Seite des menschlichen Handelns besinnen – und hier
konkret nicht nur auf die des individuellen, sondern auch des
kollektiven Handelns. Es geht um den der jeweiligen zivilisatorischen
oder speziell auch religiösen Weltsicht eigenen Logos, d.h. um
deren Strukturen, und es ist durchaus legitim, man könnte auch sagen
rational – der Mensch ist eben ein zóon lógon échon –, dass man
sich um einen strukturellen Vergleich zwischen den verschiedenen
Weltsichten bemüht. Nur so kann man sie verstehen, und nur so kann man
überhaupt begreifen, was man selber glaubt oder propagiert.
Es müsste den politischen Führungspersönlichkeiten eigentlich möglich
sein, einzusehen, dass die eine Weltsicht, die man selber hat,
nicht restlos, nämlich ohne geistigen und kulturellen Verlust, auf die
andere reduziert werden kann, dass man also – im Umkehrschluss –
das andere nicht ausschliesslich dogmatisch mit den eigenen Massstäben
messen kann. Der spirituelle Absolutheitsanspruch von Weltanschauungen
darf nicht politisch instrumentalisiert werden. Es muss hier ganz klar
zwischen den Bereichen abgegrenzt werden. Es müsste – so glaube ich –
dann zumindest möglich sein, die jetzt aufbrechenden ideologischen
Konfliktsituationen philosophisch, also rational, zu analysieren. So
könnte man zur Schlussfolgerung gelangen, dass sich gegenseitig
ausschliessende Welterklärungen, kontradiktorisch entgegengesetzte
Heilslehren, ihre Integrität – und das heisst auch ihr Fortbestehen,
ihre internationale Akzeptanz – nur bewahren können, wenn sie sich auf
eine Politik der friedlichen Koexistenz nach dem Prinzip der
Gegenseitigkeit einigen. Dies mag zwar im Fall einer eschatologischen
Heilslehre (siehe auch «Islamischer Staat») blosse (Überlebens)taktik
sein. Für die weltweite Völkergemeinschaft ist es aber besser als
nichts. Es wird zwar nicht einen hochgeistigen Dialog über metaphysische
und ontologische Prinzipien garantieren, aber es kann einen mehr oder
weniger stabilen Frieden ermöglichen.
Ich darf hier ganz kurz auf Beispiele aus der Geschichte verweisen:
Schon vorher habe ich gesagt, dass wir gegenwärtig eine Art
kreuzzugsartige Stimmung haben. In diesem Zusammenhang mag von Interesse
sein, dass es – auch wenn der damalige Kontext vollkommen anders war –
in der Ära der Kreuzzüge einzelne grosse Persönlichkeiten gab, die sich
durchaus bemühten, in ein Gespräch mit der anderen Seite zu treten, auch
wenn dies nicht bedeutete, dass man darob die eigene eschatologische
oder metaphysische Auffassung in Frage gestellt hätte. Nur ein Beispiel
dafür, was über die Grenzen hinweg auf der Basis von Gegenseitigkeit und
Koexistenz, und zum Teil auch von Philosophie, möglich sein könnte: Karl
der Grosse war an der Wende des 8. zum 9. Jahrhundert sehr wohl
imstande, freundschaftliche Beziehungen zu den Abbassiden in Bagdad zu
unterhalten.
Man könnte hier auch auf ein Beispiel aus dem 13. Jahrhundert verweisen,
das stark ins Philosophische hineingeht: Friedrich II., König von
Sizilien und Jerusalem, hat – für viele seiner Zeitgenossen schwer
verständlich – aufrichtige, philosophisch insiprierte Offenheit
gegenüber der islamischen Kultur gezeigt und auch den Rat islamischer
Gelehrter gesucht – und dies trotz seiner Teilnahme an den
Kreuzzügen. Im Rahmen der mittelalterlichen Realpolitik waren
Abmachungen zwischen den Führungspersönlichkeiten auf beiden Seiten
durchaus möglich, was aber nicht bedeutete, dass der eine versucht
hätte, den anderen zu missionieren. Das ist, glaube ich, auch jetzt das
Entscheidende: Man muss versuchen, die jeweils andere Position zu
verstehen, und man muss auf dieser rationalen Grundlage die Prinzipien
der friedlichen Koexistenz, wie wir sie schon aus anderem Kontext hier
in Europa kennen, herausarbeiten.
Für
eine fernere Zukunft darf man vielleicht darauf hoffen, dass sich – was
die islamische und die westliche Zivilisation betrifft – beide auf ihre
gemeinsamen Wurzeln in der klassischen Antike, nämlich der griechischen
Philosophie, besinnen. Auch wenn dies oft übersehen wird, so wird, wer
eine humanistische Erziehung mit Lateinisch und Griechisch genossen hat,
verstehen, was ich meine. Beide Zivilisationen haben in ihrer Blütezeit
– der Islam in der Epoche der Abbassiden in Bagdad und der Emirate von
Cordoba und Granada in Andalusien, Europa in der nachfolgenden
Renaissance – ihre Weltsicht in der Begrifflichkeit der griechischen
Philosophie, insbesondere auch der Metaphysik und Ontologie von
Aristoteles, entfaltet und das jeweils eigene System mit griechischen
Termini sozusagen „auf den Begriff gebracht“. Im Mittelalter gab es
diesbezüglich tatsächlich eine intensive Befruchtung der europäischen
Wissenschaft und Philosophie durch die arabisch-islamische, stark in der
griechischen Antike fundierte Gelehrsamkeit, insbesondere in Spanien.
Auf die Einzelheiten des Einflusses islamischer Forscher und Denker auf
einige der grossen Kirchenlehrer kann ich hier nicht näher eingehen.
Diese historische Reminiszenz mag angesichts dessen, was in den
Jahrhunderten nachher geschehen ist und was heute der Fall ist, einer
gewissen Nostalgie nicht entbehren; aber ein solcher Rückblick zeigt,
was auch möglich sein könnte.
Die Ziele des Dialoges und einer stabilen Friedensordnung können
allerdings in gar keiner Weise erreicht werden, wenn man sich – so wie
dies in der Weltpolitik immer noch geschieht – in Realitätsverweigerung
übt und lediglich die Formeln von Toleranz und Verständigung propagiert,
ohne dafür die konkreten Rahmenbedingungen zu schaffen. Diese
Zielsetzungen bleiben nur dann keine Leerformeln, wenn man in Form einer
politischen Strategie – und dies würde ich gerade auch von den hohen
Herren der Allianz der Zivilisationen, nämlich den Staats- und
Regierungschefs erwarten – genau angibt:
a) was mit diesen Zielsetzungen erreicht werden soll und
b) wie diese konkret umgesetzt werden können.
Die Operationalisierung eines Programmes unter dem Titel «Dialog» oder
«Allianz» der Zivilisationen kann unter den gegebenen Bedingungen nur
heissen:
1. Verzicht auf gegenseitige Belehrung, d.h. darauf, dass sich der eine
über den anderen stellt und den anderen gewissermassen als unmündiges
Kind, dem man erst Weisheit beibringen müsse, betrachtet.
2. Nichteinmischung, und zwar nicht nur militärisch, sondern auch
ideologisch-weltanschaulich. Das bedeutet natürlich auch Verzicht auf
Selbstgerechtigkeit jedweder Art.
3. Bei der Verfolgung konkreter politischer Ziele soll auf
«zivilisatorische» Begründungen verzichtet werden. Die zugrundeliegenden
– vor allem wirtschaftlichen – Interessen sollen auch als solche benannt
werden. Das würde bedeuten, dass man den internationalen Wettbewerb «mit
offenem Visier» betreibt und nicht unter Vorspiegelung falscher
weltanschaulicher Motive agiert. Schlicht und einfach: wenn es um Öl
geht, soll dies auch gesagt werden; wenn es um die Interessen eines
Verbündeten geht – siehe die Rolle der USA im Nahen Osten –, dann möge
man auch diese konkret benennen und uns nicht mit irgendwelchen hehren
Prinzipien von Demokratie und Freiheit traktieren.
4. Die internationale Friedenssicherung soll nicht in Form unilateraler
Gewaltanwendung, sondern ausschliesslich durch Massnahmen der
kollektiven Sicherheit im Rahmen der Organisation der Vereinten Nationen
erfolgen. Die Alternative wäre ein lang
anhaltender Konflikt nach Art der mittelalterlichen Glaubenskriege,
sozusagen ein Krieg der Welten, der im Zeitalter der
Massenvernichtungswaffen ungewollt eine apokalyptische Dimension
annehmen kann.
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